Am 1.2. wurde die erste Initiative in unserem Liquid Feedback (LQFB) eingestellt. Ich war bei der Einführung mindestens genauso gespannt, wie bei der Einführung unserer Wikis für mehr als 5 Jahren.
Unser LQFB geht noch einen deutlichen Schritt weiter als unser Wiki. Im LQFB können alle Mitarbeiter mit sicheren Pseudonymen arbeiten. Es ist sowohl technisch als auch rechtlich so eingerichtet, dass sich jeder darauf verlassen kann, dass seine Identität nicht aufgedeckt werden kann.
Wir haben uns als Unternehmensleitung dazu verpflichtet, erfolgreiche Initiativen umzusetzen. Wir behalten das letzte Entscheidungsrecht, werden es aber nur sehr zurückhaltend nutzen, wenn wir davon überzeugt sind, dass die mehrheitlich beschlossenen Initiativen dem Unternehmen schaden.
Die spannende Frage war also mal wieder: Was wird passieren? Wie verantwortungsvoll werden alle mit diesem mächtigen Gestaltungsrecht umgehen?
Es sind mehrere düstere Szenarien denkbar:
- Im Schutze der Anonymität werden wir mit Initiativen geflutet, welche uns bei Umsetzung in den Ruin treiben würden.
- Es kommt laufend zu wüsten Beleidigungen von Kollegen.
- Das System wird überwiegend von wenigen frustrierten oder ausschließlich destruktiven Kollegen genutzt.
Der Start war recht schleppend. Wir konnten in den ersten 2 Wochen nur ca. 40% der Mitarbeiter motivieren, sich in den Themenbereichen anzumelden. Mittlerweile sind wir bei über 70%.
Auch die Teilnahme an den Abstimmungen war alles andere als erfreulich. Nur knapp ein Viertel der Kollegen haben an den Abstimmungen teilgenommen. Diese Quote ist nun auch auf ca. 50% angestiegen.
Die anfängliche Zurückhaltung ist sicher auch auf die nicht gerate intuitive Nutzerführung von LQFB zurückzuführen.
Erfreulich ist, dass keines der o.g. düsteren Szenarien eingetreten ist. Zwar gibt es immer wieder mal Initiativen, wo ich nur mit dem Kopf schütteln kann. Aber: Diese Initiativen werden entweder in der Abstimmung abgebügelt oder aber bekommen schon in der Diskussionsphase so viel Gegenwind, dass sie zurückgezogen werden.
Beispiele für gescheiterte oder zurückgezogene Initiativen:
- Anschaffung eines Kickers
- Telefone in der Mittagspause durchklingeln lassen
- Erste Hilfe Kurse im Unternehmen
- Abschaffung der Mobiltelefon-Regel, jeder Mitarbeiter sucht sich sein Handy selber aus.
Es gibt auch erfolgreiche Initiativen, bei denen die Mehrheit anders abgestimmt hat als ich:
- Abschaffung der Verpflichtung von Besitzern dienstlicher Smartphones Standortmeldungen über Foursquare abzusetzen .
- Abschaffen der Bewertung für Halbjährliche Blogeinträge
- Anschaffung eines Firmenfahrrades
Diese Initiativen sind umgesetzt worden. Ich fand die Ergebnisse nicht gut, war aber weit davon entfernt, deswegen ein Veto auszusprechen.
Beispiele für weitere Initiativen:
- Neufassung der Regel zur Beendigung von Arbeitsverträgen
- Vorschlag zur Einführung einer Regel zur Personalentwicklung
- Beförderung zu Führungskräften
Bislang hat es 22 Initiativen in unserem LQFB gegeben.
Die meisten Mitarbeiter machen von der Möglichkeit Gebrauch, mit einem Pseudonym mitzuarbeiten. Ich habe eine Zeit meinen Klarnamen genutzt, dies aber mittlerweile wieder rückgängig gemacht. Ich habe von mehreren Kollegen die Rückmeldung bekommen, dass meine Klarnamennutzung möglicherweise doch die Abstimmungen zu stark beeinflusst. Ich glaube das zwar nicht. Allerdings finde ich es auch mittlerweile angenehm, in der Diskussionsphase Klartext schreiben zu können und nicht zu diplomatisch sein zu müssen.
Man kann deutlich beobachten, dass die Diskussion unter Pseudonymen erheblich direkter und offener ist als mit Klarnamen (zB in unserem Wiki). Es ist bislang nicht zu groben Ausfällen oder übler Trollerei gekommen. Ich finde, den etwas ruppigeren Ton im LQFB deutlich zielführender als das doch teilweise diplomatisch geprägte Geschwurbel, was wir sonst in Diskussionen haben.
Zwischenfazit:
Ich sehe die Einführung von LQFB als klaren Erfolg. Wir bekommen nun Themen auf den Tisch, die wir vorher nicht gesehen haben. Wir bekommen eine quantitative, offene und ehrliche Einschätzung zu wichtigen Themen. Ich nutze LQFB selber auch, um offene Mitarbeit an eigenen Initiativen zu bekommen. Allein die Anregungen sind sehr wertvoll. Das funktioniert m.E. in LQFB deutlich besser als im Wiki. Die Anzahl der Initiativen ist nicht hoch aber da im LQFB nur die Themen eingebracht werden, die unter Klarnamen schwierig sind, bewerte ich das nicht als negativ. Wenn jemand eine wenig konfliktträchtige geniale Idee hat, habe ich durchaus Verständnis, dass diese unter Klarnamen lieber ins Wiki eingebracht wird.
Unsere Kollegen haben wieder mal bewiesen, dass sie selbst im Schutze von Pseudonymen absolut verantwortungsvoll mit Gestaltungsrechten umgehen.
Also haben wir entweder deutlich bessere Mitarbeiter als alle anderen Unternehmen (was ziemlich wahrscheinlich ist…) oder aber Führungskräfte anderer Unternehmen fürchten sich völlig zu unrecht vor ihren Mitarbeitern.
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